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AUVA-Forschung: Diagnose ohne Schmerzen beim Kompartmentsyndrom?

Die Muskulatur unseres Körpers liegt in geschlossenen Räumen, die von Bindegewebe umschlossen sind. Diese Räume werden Muskelkompartments oder auch Muskellogen genannt. Während in manchen dieser Räume Volumsveränderungen möglich sind, wird es besonders in unseren Extremitäten – den Armen und Beinen – schnell eng, wenn die Dinge aus der Balance geraten.

Die Medizin spricht von einem akuten Kompartmentsyndrom, wenn nach Unfallverletzungen, zum Beispiel einer schweren Quetschung oder einem Bruch der Arm- oder Beinknochen, das Gewebe anschwillt oder die Durchblutung beeinträchtigt wird. Das kann zu schweren bleibenden Schäden in der betroffenen Extremität führen. Die Unterschenkel und die Unterarme sind die häufigsten Stellen, die vom Kompartmentsyndrom betroffen sind – es kommt bei etwa zwei bis neun Prozent der Schienbeinbrüche vor.

Da sich die Faszienschicht, die die Begrenzung dieser Logen definiert, kaum dehnt, kann eine kleine Blutung oder ein Anschwellen der Muskeln innerhalb der Muskelloge dazu führen, dass der Druck stark ansteigt. Blut kann dann nicht mehr in die kleinen Gefäße eindringen und staut sich aufgrund eines Kollapses der abführen Venengefäße. Das Gewebe wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt und stirbt ab. Auch Rhabdomyolyse, also Abbau der Skelettmuskeln, und nachfolgendes Nierenversagen sind mögliche Komplikationen. Innerhalb weniger Stunden muss der Druck abgeleitet werden, etwa durch Durchtrennen der Faszien und Haut, um bleibende Folgeschäden zu vermeiden.

Schwierige Diagnose

So schwer die Folgen sind, so schwierig ist auch die Diagnose des Kompartmentsyndroms zu stellen. Sie basiert vor allem auf den Symptomen der betroffenen Person, allen voran starken Schmerzen und Taubheitsgefühl oder Kribbeln in den Fingern oder Zehen.

Aus diesem Grund wird die Rolle der Regionalanästhesie bei der Verzögerung der Diagnose des Kompartmentsyndroms diskutiert. Wird das Schmerzempfinden durch regionale Nervenblockaden gezielt ausgeschaltet, so die Bedenken einiger Chirurgen:Chirurginnen, kann es zu verzögerter Diagnose des Kompartmentsyndroms kommen. Aus dem Bereich der Anästhesie hält man entgegen, dass es hierfür keine wissenschaftlich fundierten Belege gebe. Studien aus den USA zeigen keine Unterschiede in postoperativen Komplikationen nach Beinbrüchen zwischen Regional- oder Allgemeinanästhesie. Beide Seiten räumen ein, dass es an Daten mangle, die sichere Schlüsse in die eine oder andere Richtung zulassen. Eine Fachpublikation von Ärzten:Ärztinnen aus Österreich, Deutschland und den Niederlanden kommt 2021 zu dem für Fachliteratur durchaus unüblichen Schluss: „Ehrlich gesagt ist unser Wissen über die Auswirkungen von Regionalanästhesieblockaden auf die verzögerte Diagnose von Kompartmentsyndrom begrenzt.“

Labormodell für rasche Diagnose

Dem will das Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie, das Forschungszentrum in Kooperation mit der AUVA, entgegenwirken. In einem durch den FWF geförderten Projekt gehen Wissenschaftler:innen unter der Leitung von Priv.-Doz. Dr. Gerhard Fritsch, Oberarzt am AUVA Unfallkrankenhaus Salzburg, gezielt der Frage nach, wie sich Regionalanästhesie auf die Bildung und Erkennung des Kompartmentsyndroms auswirkt.

Im Zuge des Projekts wurde ein Labormodell etabliert, in dem das Kompartmentsyndrom künstlich mithilfe eines Ballons hervorgerufen wird. Der Verabreichung eines Anästhetikums als Testgruppe steht eine Kontrollgruppe, der nur Kochsalzlösung verabreicht wird, entgegen. Das Team von Wissenschaftlern:Wissenschaftlerinnen sieht sich daraufhin ganz genau an, was in beiden Fällen mit dem Gewebe passiert. Sterben vermehrt Zellen? Was sagt die Histologie über die Beschaffenheit des Gewebes – wurde es mehr oder weniger gequetscht? Hätte das Kompartmentsyndroms auch nachgewiesen werden können, ohne dass der:die Patient:in über Schmerzen klagt?
Vor allem in der letzten Frage liegt große Hoffnung für die spätere klinische Anwendung der neuen Erkenntnisse. Nicht mehr auf die Schmerzen von Patienten:Patientinnen angewiesen zu sein, ist eine vielversprechende Vorstellung für sowohl Betroffene als auch Behandler:innen. Die Wissenschaftler:innen untersuchen hierfür die Konzentration von systemischem Myoglobin, also ob sich Muskelabbauprodukte im Blut finden, oder auch das Laktat, ein vom Muskelkater bekanntes Produkt der Muskelübersäuerung. Im Rahmen des Forschungsprojektes wird außerdem ein neues diagnostisches Verfahren verwendet. Die sogenannte Mikroperfusion ermöglicht, direkt im Muskelgewebe, also direkt am Ort des Geschehens, Stoffe zu messen, die im Rahmen des Zelluntergangs anfallen. In Voruntersuchungen hat sich gezeigt, dass Mikroperfusion wesentlich sensibler und rascher auf eine Durchblutungsstörung im Muskelgewebe reagiert als herkömmliche Messungen im Blut.

Hier ergibt sich die Möglichkeit, ein sich anbahnendes Kompartmentsyndrom schneller und mit größerer diagnostischer Treffsicherheit zu diagnostizieren.
Die Studie kann somit nicht nur helfen, den Streit zwischen Chirurgie und Anästhesie beizulegen, sondern auch gemeinsam einen Weg für bessere Früherkennung des Kompartmentsyndroms aufzuzeigen. (cs)

Priv-.Doz. Dr. Gerhard  Fritsch, Oberarzt am AUVA-Unfallkrankenhaus Salzburg, leitet das Kooperationsprojekt zum Kompartmentsyndrom.
DDr. Johannes Zipperle, MSc, kümmert sich am LBI Trauma um die wissenschaftliche Umsetzung.

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© PeopleImages/iStock