Frei von psychischen Belastungen ist man in keinem Beruf. Solange diese ein gewisses Ausmaß nicht übersteigen, kommen die meisten Beschäftigten damit zurecht. „Eine belastende Phase kann man aushalten, aber dann braucht es Erholung“, so die Universitätslektorin, Arbeitspsychologin, Klinische und Gesundheitspsychologin Mag.a Dr.in Elisabeth Ponocny-Seliger.
Wann das Ausmaß an Belastungen am Arbeitsplatz zu groß wird, ist von Person zu Person verschieden. Unternehmen sind zwar verpflichtet, psychische Arbeitsbedingungen bei der Arbeitsplatzevaluierung einzubeziehen, aber die dabei eingesetzten Methoden können die individuelle Belastbarkeit der Beschäftigten nicht berücksichtigen. Häufig wird immer noch vom Stereotyp des „idealen Arbeitnehmers“ ausgegangen. Diesen beschreibt Ponocny-Seliger als weiß, männlich, jung, gesund, cis – d. h., das gelebte entspricht dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht –, heterosexuell, flexibel und gut ausgebildet. Die Realität sieht allerdings anders aus, und zwar divers – also unterschiedlich.
Diversitätsgruppen
Je nach Diversitätsgruppe, der jemand angehört, weist eine Person bestimmte Merkmale auf, die sich im Beruf als vorteilhaft oder nachteilig erweisen. Diese Merkmale werden nach dem Vier-Schichten-Modell in „Schichten“ eingeteilt. Der Kern ist die Persönlichkeit, dann folgt die innere Dimension wie Geschlecht, Alter, soziale und ethnische Herkunft oder eine Behinderung. Die dritte Schicht bilden äußere Dimensionen, wie zum Beispiel die Ausbildung, Berufserfahrung oder Elternschaft. Schließlich folgen die organisationalen Dimensionen wie die Position in der Hierarchie oder das Arbeitsverhältnis, von fix angestellt bis prekär.
Mitglieder von Diversitätsgruppen, deren typische Merkmale als beruflich nicht „ideal“ betrachtet werden, versuchen häufig, diesen vermeintlichen Makel wettzumachen, indem sie sich besonders anstrengen. Das stellt eine zusätzliche psychische Belastung dar, die als Minority Stress – also der Stress, dem man ausgesetzt ist, weil man einer Minderheit angehört – bezeichnet wird.
Ponocny-Seliger bringt ein Beispiel: „Die Benachteiligung von Frauen im Beruf hat in den letzten 20 Jahren im Allgemeinen abgenommen, das gilt aber nicht für Mütter. Das betrifft nicht nur Schwangere und Frauen mit Kindern, sondern sogar kinderlose Frauen, die in ein Alter kommen, in dem man mit dem ersten Kind rechnet. Es passieren Zuschreibungen wie jene, dass sich eine Frau mit Kind nicht mehr so sehr auf den Job konzentrieren kann. Die Betroffenen müssen beweisen, dass sie die Anforderungen trotzdem erfüllen können.“ Schafft eine Frau das, ist sie mit einer weiteren Zuschreibung konfrontiert: Eine beruflich erfolgreiche Frau mit Kind sei sicher keine gute Mutter.
Intersektionalität
Da jede:r mehreren Diversitätsgruppen angehört, die unterschiedliche beruflich förderliche oder hinderliche Merkmale aufweisen, kommt es auf die Kombination der einzelnen Diversitätskategorien an, die sogenannte Intersektionalität. So schätzt man zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit höher ein, dass eine junge Frau in der nächsten Zeit schwanger wird, wenn die Frau einer ethnischen Gruppe entstammt, in der Frauen in jüngerem Alter Mütter werden und meist mehrere Kinder bekommen. Auch wenn diese Zuschreibung auf eine bestimmte junge Frau nicht zutreffen muss, kann sich für diese im Berufsleben ein Nachteil daraus ergeben.
Gewisse Merkmale sind mit einer psychischen Belastung, die nicht ursächlich in der Arbeit begründet ist, verbunden. Ponocny-Seliger verwendet das Symbol eines Rucksacks, der mit Belastungen gefüllt ist und dadurch immer schwerer wird. Hat eine Supermarktangestellte zu Hause ein pubertierendes schwieriges Kind, wird sie es wahrscheinlich anstrengender empfinden, als am Arbeitsplatz zu unhöflichen Kund:innen freundlich zu sein.
Gleichheits- und Differenzansatz
Der in der Regel zur Evaluierung psychischer Belastungen angewandte Gleichheitsansatz, dass an einem Arbeitsplatz alle die gleichen Rechte und Pflichten haben, bezieht den unterschiedlich schweren in den Job mitgebrachten „Belastungsrucksack“ nicht mit ein. Im Gegensatz dazu sieht der Differenzansatz für bestimmte Diversitätsgruppen eine besondere Behandlung vor. Doch: Wer einer solchen Gruppe angehört, erfährt eine Sonderbehandlung, auch wenn er:sie diese nicht braucht oder nicht will, weil zum Beispiel dadurch die Aufstiegschancen verringert werden. So kann etwa auch eine junge Mutter beruflich flexibel sein, wenn andere Bezugspersonen die Kinderbetreuung übernehmen.
Der Königsweg liegt für Ponocny-Seliger in einer Kombination beider Ansätze und ein jeweils an den konkreten Fall angepasstes Vorgehen der Führungskräfte. Diese wissen meist nicht, wie schwer der „Rucksack“ der einzelnen Arbeitnehmer:innen ist, können aber unterstützende Verhältnisse schaffen. Dazu gehört ein Betriebsklima, in dem offen mit psychischen Belastungen umgegangen wird, oder die Installation von Vertrauenspersonen, an die sich Beschäftigte mit psychischen Problemen wenden können.
Betroffene Mitarbeiter:innen sollten diese Möglichkeiten nutzen, bevor aus einer Belastungssituation eine psychische Erkrankung entsteht. Dafür muss man erkennen, wie stark man tatsächlich belastet ist. Gerade Personen, die gewohnt sind zu „funktionieren“, übersehen häufig erste Anzeichen, so Ponocny-Seliger: „Oft merkt man es selbst noch nicht, sieht aber, dass Verhaltensänderungen im Familien- oder Freundeskreis wahrgenommen und angesprochen werden, zum Beispiel: ‚Du bist in letzter Zeit so angespannt.‘“ Spätestens, wenn Kollegen:Kolleginnen oder sogar Vorgesetzte fragen, ob „eh alles in Ordnung“ sei, sollte man etwas tun, damit einem die psychischen Belastungen nicht über den Kopf wachsen. (rp)