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Prävention: Lehrlinge in Bewegung

Was müssen Jugendliche dürfen, wissen, können und wollen, damit sie möglichst lange ihren Beruf gesund ausüben können?

In Zeiten erhöhten Facharbeiter:innenmangels und eines Anstiegs vorzeitiger krankheitsbedingter Pensionierungen wächst auch die Sorge von Staat und Wirtschaft um die Gesundheit und das Wohlbefinden junger Menschen. Die Bedeutung von Bewegung und körperlicher Aktivität in der Ausbildung von Lehrlingen nimmt zu. Das Thema wird umso dringlicher, als viele junge Menschen mit bereits bestehenden Muskel- und Skelettproblemen ins Berufsleben eintreten, die durch die Arbeit möglicherweise noch verstärkt werden können.

Phase der Veränderung

Die Phase der „Lehrzeit“ stellt einen besonders gesundheitsrelevanten Abschnitt im Leben von Jugendlichen dar, der von umfassenden persönlichen und beruflichen Veränderungen begleitet wird. Daher sollte es an den Ausbildungsorten von Lehrlingen nicht „nur“ um das Erlernen eines Berufes gehen. Diese zentralen Lebenswelten sollen auch einen Grundstein für eine lange Arbeitsfähigkeit legen, indem sie
Lehrlinge schädigungsfrei fordern und fördern, an gesunden Arbeitsplätzen mit Arbeitsaufgaben und unter Arbeitsbedingungen, die nicht gesundheitsbeeinträchtigend wirken, Lehrlinge sensibilisieren und befähigen, körpergerecht zu arbeiten, sich effizient zu regenerieren,
Arbeitserleichterungen auszumachen und zu nützen.

Automatisierung braucht viele Wiederholungen

Die Lehrzeit ist auch eine Zeit des motorischen Lernens. Jede Bewegung muss oft wiederholt werden, damit das Gehirn die effizientesten Bewegungsmuster herausfinden und stabilisieren kann. Regelmäßige Wiederholung führt dazu, dass die Muskeln sich an bestimmte Bewegungen „erinnern“, das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Muskelgruppen wird optimiert, Präzision und Kontrolle der Bewegungen verbessern sich. Dabei sind vier Phasen zu unterscheiden (in Anlehnung an das vierstufige Lernmodell nach Burch):

  1. Unbewusst inkompetent: Unbewusst werden weniger trainierte Muskelgruppen auf Kosten der Gelenke entlastet, indem man zum Beispiel zusammengekauert sitzt oder mit gestreckten Beinen hebt, was ebenfalls einen runden Rücken und damit eine ungleiche Belastung der Bandscheiben bewirkt. Oder die Arbeitshöhe wird nicht optimiert, die Arbeitshaltung nicht gewechselt – und man hat noch kein Problem damit.
  2. Bewusst inkompetent: Man spürt, dass diese Arbeitsweisen nicht ohne Folgen bleiben (Schulter-Nacken-Verspannungen, Rückenbeschwerden), aber man weiß nicht, was man dagegen unternehmen soll.
  3. Bewusst kompetent: Man weiß, wie man körpergerecht arbeiten könnte, aber man denkt nicht immer daran, man muss sich dies immer wieder bewusst machen bzw. darauf aufmerksam gemacht werden.
  4. Unbewusst kompetent: Damit körpergerechte Arbeitsweisen zur Ge­­wohnheit werden, sind viele Wiederholungen notwendig. Tief in den motorischen und neuronalen Prozessen verankert, können Bewegungen dann effizient, sicher und ohne bewusste Anstrengung ausgeführt werden.

Mehrstufiger Ansatz

Die Erfahrung zeigt, dass Ergonomie-Schulungen und Bewegungsangebote zu kurz greifen, um diese Ziele zu erreichen. „Lehrlinge in Bewegung“ hat sich als mehrstufiges Seminarkonzept in der Lehrlingsausbildung bewährt:

  1. Workshopartige Fortbildung mit auszubildenden Personen unter der Leitung von Bewegungsexpertinnen:-experten mit speziellem Know-how im Bereich Arbeitnehmer:innenschutz und Ergonomie, in denen unter anderem erörtert werden soll, welche ergonomischen Prinzipien in den verschiedenen Ausbildungsphasen/Arbeitsbereichen angewendet wer­­­­­den können, wie Lehrlingsausbilder:innen aktiv zur Förderung eines gesunden Arbeitsumfeldes beitragen können, wie Lehrlinge befähigt und motiviert werden können, um Risikofaktoren in der täglichen Arbeit zu identifizieren und zu minimieren.
  2. Erstimpuls zu Beginn des jeweiligen Lehrjahrs durch Experten:Expertinnen, um Lehrlingen die Bedeutung gesunden Arbeitsverhaltens zu vermitteln und ihnen grundlegende Kenntnisse und Techniken näherzubringen, um Muskel-Skelett-Erkrankungen zu vermeiden. Es stellt sich immer wieder heraus, dass Lehrlinge wissen, dass beim Heben der Rücken gerade und die Knie gebeugt werden sollen. Was sie nicht wissen, ist, dass sie vor dem Beugen bereits einen knieweichen Stand einnehmen sollten, denn durchgestreckte Beine verleiten dazu, diese durchgestreckte zu lassen und den Oberkörper vor- und hinunterzubeugen, was den Druck auf die Bandscheiben vervielfacht. Sind Lehrlinge in den letzten beiden Jahren noch gewachsen, so ist davon auszugehen, dass die Wachstumsfugen in den Knochen noch nicht vollständig geschlossen sind und übermäßige Belastungen zu Verletzungen und Wachstumsstörungen führen können. Kraft ist nicht alles, der Stützapparat muss auch bereit für Belastungen sein.
  3. Darauf aufbauend laufende Thematisierung körpergerechten Arbeitens durch die Lehrlingsausbildenden, bei Bedarf mit Unterstützung von Präventivfachkräften und Experten:Expertinnen. Die Thematisierung sollte nicht kritisierend sein, sondern in Form offener Fragen zum lösungsorientierten Denken anregen.
  4. Fortbildung mit Vorgesetzten von Lehrlingen im Betrieb. Vor Kurzem nahm ein 46-jähriger Werkmeister an einer meiner Schulungen teil, der vor 30 Jahren als Lehrling bei mir an „Lehrlinge in Bewegung“ teilgenommen hatte. Heute noch gibt er jedem neuen Lehrling die Aufgabe, in den nächsten drei Wochen zu überprüfen, ob ihm:ihr bei der Arbeit in der neuen Umgebung etwas auffällt, was man im Sinne körpergerechten Arbeitens verbessern könnte. „90 % der Dinge, die den Lehrlingen auffallen, sind bekannt, aber dann kommen immer wieder ein paar Vorschläge, die wir in unserer Betriebsblindheit noch nicht bedacht haben. Das zahlt sich schon aus. Außerdem habe ich von den vielen Impulsen von damals selbst profitiert. Daher bin ich froh, dass in unserem Betrieb ,Lehrlinge in Bewegung‘ vom Projekt zum Programm geworden ist“, sagt der Werkmeister. (ps)
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Auf der Suche nach gesunden Varianten: Die Belastungen sollen auf möglichst viele Muskeln und Gelenke verteilt werden.
© P. Scheibenpflug