Populären Schätzungen zufolge soll unser Gefäßapparat so lang sein, dass wir ihn zweimal um den Äquator legen könnten. Wir haben nachgerechnet: Damit dies mit dem Volumen unseres Körpers möglich ist, dürfte die Gefäßlinie um den Äquator nur wenige Mikrometer dick sein. Wirkt unglaublich, aber tatsächlich sind die meisten Gefäße unseres Körpers unglaublich klein – nur so können sie wirklich alle Regionen unseres Körpers versorgen.
Was aber passiert, wenn dieses Netzwerk zu Schaden kommt? Am Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie (LBI Trauma), dem Forschungszentrum in Kooperation mit der AUVA, widmet sich eine Forschungsgruppe rund um Priv.-Doz. Dr. Wolfgang Holnthoner grundlegenden und zukunftsweisenden Fragen der Gefäßbiologie und -regeneration.
Modellbau im Miniaturformat
Um neue Ideen und Materialien schneller zu testen, setzen Forschende auf dreidimensionale Labormodelle. Dabei werden Zellen, die kleinsten lebenden Bausteine unseres Körpers, in natürliche oder synthetische Gerüste eingebettet. So lassen sich Entzündungen, Gefäßneubildung oder Gewebeabstoßungen besser verstehen.
Noch raffinierter sind Organ-on-a-Chip-Technologien: Winzige „Organsysteme“ mit mikroskopisch kleinen Kanälen simulieren den Blut- oder Lymphfluss und ermöglichen eine exakte Steuerung von Nährstoffen, Druck und Fließgeschwindigkeit. Auf diese Weise können Forschende in Echtzeit beobachten, wie Gefäße wachsen, wie sie auf Medikamente reagieren und wie sich Krankheiten wie Atherosklerose oder Lymphödeme entwickeln.
3-D-Druck und Bioprinting
Das sogenannte Bioprinting geht noch einen Schritt weiter: Hier dient eine Gel-Matrix, in die lebende Zellen eingebettet werden, als „Druckertinte“. Theoretisch lassen sich so ganze Mikrogefäß-Netzwerke Schicht für Schicht aufbauen – in Zukunft vielleicht sogar Organe mit integriertem Lymph- und Blutgefäßsystem. Noch ist das größtenteils Zukunftsmusik, doch erste Prototypen lassen hoffen, dass wir eines Tages funktionstüchtige Gewebestrukturen auf Knopfdruck herstellen können.
Zellfreie Gefäßtransplantate
Einen innovativen Ansatz verfolgt Priv.-Doz. Dr. Karl Schneider von der MedUni Wien in seiner gerade abgeschlossenen Habilitation. Er arbeitet an dezellularisierten Gefäßen, die von allen Zellen befreit, aber in ihrer Struktur erhalten sind. Die Idee dahinter: Das Grundgerüst eines Blutgefäßes bleibt bestehen und dient als natürlicher „Träger“, der vom Körper nach und nach besiedelt wird. So könnte man künstliche Implantate durch biologisches Material ersetzen, ohne dem Empfängerkörper an anderer Stelle Gefäße entnehmen zu müssen. Die Auswaschung der Zellen wirkt Abstoßungsreaktionen entgegen. Seine Forschungsreise begann Dr. Schneider am LBI Trauma, und auch der Wechsel an die MedUni Wien tat der wissenschaftlichen Verbundenheit keinen Abbruch.
Lymphödem & Co.: die andere Seite der Medaille
Während im Blutkreislauf oft die potenzielle Lebensgefahr durch Herzinfarkt oder Schlaganfall im Vordergrund steht, machen sich Störungen im Lymphsystem oft „nur“ chronisch bemerkbar, können das Leben der Betroffenen aber massiv beeinträchtigen. Besonders deutlich wird das bei Lymphödemen: Flüssigkeitsansammlungen, geschwollene Gliedmaßen, Entzündungen und Infektionen sind nur einige der Folgen. Übrigens können sich auch Störungen des Blutkreislaufs chronisch äußern: etwa, wenn durch eine Unterversorgung mit sauerstoffreichem Blut hartnäckige, nicht heilende Wunden entstehen.
Immer mehr Studien zeigen, dass Blut- und Lymphgefäße eng zusammenarbeiten. Das Lymphsystem produziert täglich etwa fünf Liter Lymphflüssigkeit, die für den Abtransport von Abfallstoffen und die Unterstützung des Immunsystems unerlässlich ist. Ist dieses System gestört, kann das negative Auswirkungen auf die Arterien haben. Eine Therapie, die nur auf das Blutgefäßsystem abzielt und das Lymphgefäßsystem vernachlässigt, greift oft zu kurz.
Flaschenpost im Miniaturformat
Ein spannender neuer Forschungszweig am LBI Trauma widmet sich nun gezielt dem Lymphgefäßsystem – und zwar mittels „Flaschenpost“ im Nanoformat: den extrazellulären Vesikeln (EVs). Diese winzigen Bläschen dienen dem Transport von Nachrichten zwischen Zellen. Bereits länger ist bekannt, dass EVs aus Blutgefäßzellen bei Krankheiten anders zusammengesetzt sind als in gesunden Zuständen.
Doch wie sieht es mit EVs von Lymphgefäßen aus? Holnthoner, der nicht nur Forschungsgruppenleiter sondern auch Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Extrazelluläre Vesikel (ASEV) ist, hat seine Gruppe genau hinsehen lassen. Eine neue Studie, durchgeführt von Dr.in Marianne Pultar und Johannes Oesterreicher, MSc, kamen zum Ergebnis: Bestimmte Nachrichten kommen nur in EVs aus Lymphgefäßen vor – eine deutliche Abgrenzung zu den „Blut-EVs“. Dieses Wissen könnte der Schlüssel sein, um gezielt Prozesse wie Entzündungen oder Geweberegeneration zu steuern.
Lymphangiogenese gezielt stimulieren
Funktionstüchtige Lymphgefäße spielen eine zentrale Rolle in der Heilung. Das Team rund um Wolfgang Holnthoner plant, die Erkenntnisse zu den EVs zu nutzen, um das Wachstum neuer Lymphgefäße (Lymphangiogenese) gezielt voranzutreiben. In einem ersten Schritt wollen sie EVs so „umbauen“, dass sie an Lymphgefäße andocken und dort die Bildung neuer Gefäße anregen können. Gelingt dies, könnte man eines Tages chronische Wunden, die bisher nur schwer heilen, wesentlich effektiver behandeln. (cs)